05.07.2018

rescEUrope ist der Ort im Web, an dem ich wort- und bildjournalistisch Erlebnisse dokumentieren möchte, die mit der Ordnung von Europa zu tun haben. Bisher habe ich so gelagerte Reportagen in einer eigenen Sektion meiner Fotografie-Seite, SandWorks, und der Online-Plattform der Jungen Europäischen Föderalisten, Treffpunkt Europa, veröffentlicht. Nun möchte ich ihnen einen eigenen Raum geben.

Meine Ambitionen, politische oder gesellschaftliche Themen aus Europa zu dokumentieren erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Regelmäßigkeit. Vielmehr gehe ich in ihrer Auswahl willkürlich vor. Wenn sich ein europarelevanter Moment abzeichnet, wie zum Beispiel die Wahl Macrons oder der Brexit, denke ich darüber nach, ob es für mich realisierbar ist, hinzufahren. Dabei sind Grenzen der Realisierbarkeit schnell erreicht, wenn sich der Europatermin zeitlich mit einer Produktion überschneidet, die mit einem Kunden für denselben Zeitraum bereits abgestimmt und geplant ist.

Darüber hinaus würde ich bei einem selbstgewählten politischen Projekt lieber im Sommer als im Winter verreisen. Das hat vor Allem mit der Form zu tun, wie ich reise. Darauf werde ich später zurückkommen. Spoiler: Ich nehme den Bus.

Ich bin wohl schon immer ein politischer Mensch gewesen. Meine Mutter sagte früher, ich führe mich auf als wäre ich Jesus oder: „Mit deinem Mundwerk musst du in die Politik.“ Mit Europa und all dem Gezänk darüber hat mein Harmoniewille ein weites Betätigungsfeld gefunden. Es war die Zeit des Großmanngeposes von Putin auf der Krim und seinem Gelüge in der Ukraine und die Zeit der schlimmen islamistischen Anschläge in Brüssel und Nizza, Böhmermanns Blutgrätsche in die Posse, die der andere Poser, Erdogan, mit Extra 3 hatte, als ich zunehmend nervöser geworden bin über Stabilität und Selbstverständnis Europas. Dann haben sich die Briten auch noch für den Brexit entschieden!

Ich fragte mich, warum nicht alle Menschen die Idee eines bunten und geeinten Europas annehmen und mit Zuversicht das molligwarme Gefühl teilen, Teil eines wohlwollenden und schützenden Ganzen zu sein? Der Gedanke ist für viele Menschen eine große Hoffnung. Einige andere scheint er jedoch zu bedrohen. Die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Europäischen Idee hat mich interessiert. Ich wollte wissen, warum es so weit auseinander gehende Erwartungen darüber gibt. Ist es mangelhafte Kommunikation über das Wie und Wofür? Oder führt die Reibung der Prozesse beim Zusammenfinden dazu, dass die Größe des Gedankens verblasst? Und würde sich all der Argwohn umso mehr auflösen, je fertiger die Union werden würde?

Um einen Weg zu finden, Europa zu verstehen und Vorgänge in dem Vielvölkergebilde zu dokumentieren, habe ich einige rote Fäden meines Lebens miteinander verknüpft. Den vorhandenen politischen Faden habe ich mit dem Fotofaden verbunden und die beiden mit dem Reisefieberfaden verknotet. Indem ich nach Europa aufbrechen und daraus ein Fotoprojekt machen würde, könnte ich meine proeuropäische Energie im Rahmen meiner Möglichkeiten kanalisieren.

Mir war gleich klar, dass ich einen Buddy brauchte. Reich und mächtig sollte er sein, einflussreich und mächtig. Ich nahm Kontakt mit Martin Schulz auf.

Zu der Zeit ist er Präsident des Europäischen Parlaments in Straßburg gewesen. Dort hatte er beeindruckende Reden gehalten. Sein Herz schlug für Europa und es schien, als hätte auch er damit ein Problem, dass selbst im 21. Jahrhundert noch über demokratische Grundwerte und universelle Menschenrechte verhandelt werden muss. Ihn wollte ich als Schutzpatron und Fürsprecher.

Was wohl die wenigsten ahnen konnten, war, dass Schulz bereits 2016 zum Kanzlerkandidaten der SPD für die Wahl 2017 aufgebaut wurde. Und natürlich wird er als Parlamentspräsident in diesen stürmischen Zeiten alle Hände voll zu tun gehabt haben, den Europa-Laden am Laufen zu halten. Das dachte ich jedenfalls, als aus seinem Büro ein dürrer Brief mit Wünschen für Erfolg und Glück kam und Go for it – aber sorry.

Meine erste, impulsive Idee eines Roadtrips durch Europa habe ich aus Budget- und Zeitgründen schnell verworfen. Monatelang durch Europa fahren war nicht drin. Stattdessen habe ich zurückgegriffen in die alte Kiste Lebenserfahrung, ein paar davon herausgegriffen und einen Plan geschmiedet. In den Neunzigern bin ich einige Zeit in New York gewesen, um möglichst schnell zu vergessen, was ich in Karlsruhe über Fotografie gelernt hatte. Die Think-Big-Therapie hatte damals gut angeschlagen und ich habe dort in ein paar Monaten mehr übers Fotografieren gelernt als in den drei Lehrjahren davor.

In NY habe ich noch eine andere wichtige Erkenntnis über mich und über das Fortbewegen gewonnen. Während halb New York unterirdisch unterwegs war, ist das für mich keine Option gewesen. Ich wollte ja die Stadt obenrum kennenlernen. Und so habe ich mir am dritten Tag in NY einen Disc Man und ein Bike namens JAZZ gekauft! Es vergingen Wochen in denen ich kreuz und quer durch alle Boroughs geradelt war, bevor ich ein einziges Mal den Auslöser meiner Canon gedrückt hatte. Zu der Zeit waren außer einigen Bike Messengers nicht viele Menschen in New York per Rad unterwegs. Für mich aber war das Rad die schönste, effektivste und eleganteste Form, die Stadt zu erfahren.

Im Jahr 2015 bin ich wieder in NY gewesen, jetzt mit meinem Freund Lars, um für seine Design-Postille, SLANTED, ein Portrait der vibrierenden Gestalterszene der Stadt  zu fotografieren. Wir waren zehn Tage dort, hatten am Tag bis zu fünf, nach Stadtteilen unsortierte Termine. Lars ist auch ein Radler und so haben wir alle Termine mit City Bikes gemacht.

Mit Lars verbindet mich noch eine andere Fahrradhandlung: Gemeinsam sind wir für die visuelle Kommunikation der Single Speed Pioniere von FIXIE Inc verantwortlich gewesen. Legendär die Foto-Bike-Sause des Jahres 2011, auf der wir die Helden eines wirklichen Bike Polo Turniers in irre Klammotten steckten und für die “Cycles For Heroes” Kampagne fotografierten. Herrjeh, hatten wir einen Spaß!

Hier schließt sich der Kreis: Wenn ich heute für ein Europaprojekt in Paris in der Wahlnacht von Macron fotografiere und zwischen Place de la République, dem Louvre und Macrons Parteisitz hin- und herflitze, oder während des G20 Gipfels in Hamburg geschwind von den Landungsbrücken auf die Schanze sause, dann radel ich auf meinem „Peacemaker“, dem schönsten FIXIE, das Reçep und Holger gebaut haben.

Als mein Sohn Tim elf war, hatten wir einen running gag wenn es um seine Zukunft ging. Wenn alle Stricke reißen würden, wird er Busfahrer. Warum gerade das, weiß ich heute nicht mehr. Gut möglich, dass busfahren gerade ein Riesenplaymobilthema gewesen war. Heute sieht es jedoch so aus, als ob ich mir damals eine selbsterfüllende Prophezeiung für mich selbst zurecht gelegt hätte.

Während ich vor zwei Jahren über rescEUrope, Foto und Roadtrip nachdachte, habe ich auch überlegt, wie ich es praktisch organisieren könnte, relevante europäische Plätze anzufahren, mich dort einige Tage aufzuhalten, eine Story zu fotografieren und wieder zu verschwinden. Eine definierte Voraussetzung war, spontan sein zu können. Wochen zuvor Termine zu wissen, einzuplanen, Flüge, Hotels und Leihwagen zu buchen, ging nicht. Es musste eine Lösung dafür her, wie ich Klamotten, Equipment, das Rad und die Cholesterinsenker transportieren konnte. Und das ging so: Im Bus. BulliBus.

Anfang 2016 habe ich Wochen auf der Konfigurationsseite von VW damit verbracht, mir mit keinerlei praktischen Erfahrungen darin, ein Reisefotomobil zusammenzustellen. Jeder, der schonmal einen Online-Konfigurator bedient hat, weiß, dass man Stunden damit verbringt, alles mit allem zu kombinieren, sinnlose Optionen und attraktive Zusatzpakete samt Unteroptionen hin- und herklickt, erkennt, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist, zwischenspeichert, wieder verwirft.

Am Ende drückt man Herzeigen und das Autoglück poppt in der Traumfarbe und den krassen 18 Zoll Leichtmetallern im blinkenden Photoshop-Hintergrund auf. Preis: Acht Millionen! Dann redest Du Dir und Deiner Frau ein, dass ohne die 18 Zoll Dinger das Licht-und-Sicht-Paket nicht geht…

Ich musste ziemlich abspecken, um am Ende auf einen vernünftigen Preis zu kommen. Im November des selben Jahres holte ich den BulliBus in Hannover ab. Es passt alles rein und dran und Bussi und ich sind jetzt ziemlich gute Freunde.

Es ist jetzt der 15. Oktober 2018, auf dem Tacho sind 33.122 Kilometer. 2017 hatte ich viele sehr interessante und ein paar wirklich spannende Reisen mit dem Bulli. Weil ich in dem Jahr sehr viel weg gewesen war, musste ich 2018 kürzer treten. Ich war lediglich in Canobio, um in Ruhe diese Site aufzubauen und später in Augsburg, um die Stadt während des Parteitages der AfD zu fotografieren.

Die alleraufregendste Reise mit dem Bus hatte ich aber im Sommer 2018 mit meiner Frau, Nadine, unternommen: Sardinien. Paarurlaub auf der Insel! Wir hatten keine Ahnung, wie wir auf den paar Quatradmetern zurechtkommen würden. Zwar hatten wir beide Lust darauf, uns auf das Abenteuer einzulassen und ahnten, dass wir nach zwanzig (Quasi-) Ehejahren reif waren, mal zu zweit zu sein. Ich sage „quasi“ weil wir nicht verheiratet sind und „…meine Frau“ weil Nadine mehr als meine Freundin ist. Wir hatten ganz schön Muffensausen.

Völlig grundlos, wie sich herausstellte. Es war großartig!

Glücklich zu zweit zu sein gehört zu den Mysterien eines Ehelebens. Es scheint hier wie mit Europa zu sein. Der Gedanke zusammenzugehören ist für manche Menschen eine große Hoffnung. Einige anderer scheint er jedoch zu bedrohen. Man muss es wollen, um sich darauf einzulassen. Zuversicht hilft und üben, dann wird es eine Bereicherung.

Ich übe.