Dieser verrückte Brexit!

Meine Reportage führt mich vom Brexit-Sondergipfel in
Brüssel 
nach London. Hier soll zwei Tage nach dem
Gipfel, im Britischen 
Parlament am 19. Oktober 2019 über
einen Deal abgestimmt werden, während
 auf der Straße
eine Million Menschen gegen den Brexit protestieren.

 

Wäre 10 Downing Street am „Super Saturday“ eine Foto Box auf der Kirmes, dann würde sich Boris Johnson, Inhaber und First Gaukler unter den Quacksalbern des Brexits, an diesem Samstag eine Goldene Nase verdienen. Jeder der vorbeikommt, möchte jetzt vor der berühmtesten Schaubude im Land ein Selfie haben.  

Johnson selbst ist nicht zugegen. Der magische Verhandler, der den Backstop am liebsten weggezaubert hätte, verkauft gerade eine halbe Meile südlich, im Parlament, seinen Deal mit dem Europäischen Rat. Auf den Entwurf hatte er sich zwei Tage zuvor in Brüssel mit den anderen 27 Staatslenkern geeinigt. Er lässt jetzt 628 abgeordnete Tiger durch brennende Reifen hüpfen. 322 weigern sich und so wird wieder nichts aus dem Austritt. Déja vu, Frau May? 

Draußen kommen unterdessen massenhaft Menschen zum People`s Vote March zusammen, um ihren Unwillen gegen die Austrittsfantasien ihres Premiers zum Ausdruck zu bringen. Sie tauchen die Straßen Londons in europäisches Blau mit gelben Tupfen. Kurz bevor im Westminster Palace, dem Sitz des Britischen Unterhauses, die Abstimmung darüber beginnt ob die Abgeordneten dem Vertragsentwurf aus Brüssel zustimmen, kommt der Zug der Europabefürworter im Vorgarten des Parlaments an. Auf dem Parliament Square ist jetzt eine Kundgebung geplant.

Während der 90 Minuten von Speakers Corner zum Parliament Square schließen sich tausende weitere Brexit-Gegner dem Zug an. Von einer Million ist jetzt die Rede. Die Minuten der Abstimmung im Unterhaus werden live auf einen riesigen Bildschirm über der Bühne hinter dem Parlament übertragen: „The ayes to the right 322, the noes to the left 306. The ayes have it“, dröhnt John Bercow, Sprecher des Britischen Unterhauses, der im Februar 2017 dem Rassisten und Sexisten Donald Trump den Zutritt zum House of Commons verwerhrte. Die Massen jubeln.

Was war passiert? Oliver Letwin, Mitglied des Parlaments, Tory-Rebell und bekennender Brexit-Gegner, brachte in die Debatte um Johnsons Brüsseler Vertrag den Antrag ein, dass vor einer Entscheidung der Abgeordneten über den Brexit-Deal das Parlament zunächst ein Ratifizierungsgesetz billigen muss. Darin ist die technische Umsetzung des Brexit geregelt. Dem Antrag haben 322 Abgeordnete zugestimmt – mit diesen Folgen: Die Routinen, die greifen werden, um die technischen Voraussetzungen für den Brexit zu formulieren und abzustimmen dauern länger als bis zum 31. Oktober, dem mittlerweile dritten offiziellen Austrittsdatum der Briten. Für eben diesen Fall der Unpünktlichkeit sieht der Benn-Act widerum vor, dass Boris Johnson Brüssel um mehr Zeit für den Exit bitten muss. Das will er partout nicht und nach eigenen Worten lieber „tot im Straßengraben liegen“. Die krachenden Niederlagen der letzten Wochen, die Regierung und Partei Johnsons begleiteten, machen deutlich wie tief das Mißtrauen der Abgeordneten gegenüber dem Premier sitzt, der wiederholt und laut seine Vorliebe für einen harten Brexit geäußert hatte.

Nach dem Rauswurf der 21 Rebellen aus der Tory-Fraktion Anfang September, die der Regierung in ihrem Brexit-Kurs nicht mehr folgen wollten, hatte Johnson seine ohnehin hauchdünne Mehrheit von einer Stimme im Parlament verloren. Unter den 21 waren der Antragsteller vom Samstag, Oliver Letwin, wie auch der Enkel von Winston Churchill, Nicholas Soames. Auch Jo Johnson, Bruder des Premiers und kurzzeitig als Redner auf der People`s Vote Kundgebung gehandelt, legte im September dieses Jahres wegen seiner inneren „Zerrissenheit (…) zwischen Loyalität zur Familie und nationalem Interesse“, alle Ämter als Mitglied des Kabinetts nieder.

Boris Johnson`s Idee, der Brexit sei ein Klacks, hat sich als falsch erwiesen. Er scheint dünnhäutiger zu werden. Oder genervter. Als am Donnerstag auf dem EU Gipfel zum Brexit in Brüssel gegen 14:00 Uhr alle Presseleute mit nervösem Finger auf dem Auslöser Staatschef um Staatschef begrüßen, fehlt am Ende nur einer. Boris Johnson kommt durch die Hintertür. Dabei wäre es sein Auftritt als gewiefter Verhandler gewesen, der mit den verbleibenden 27 EU Mitgliedsländern endlich eine Lösung für den problematischen Backstop ausgehandelt hat. Allerdings würde der schwierigere Schritt, das eigene Parlament zu überzeugen, erst noch folgen. 

Ob Boris Johnson freudig erregt war, als er mit Dominic Cummings, dem Steve Bannon des Brexits, nach London verschwand um die weitere Strategie zu besprechen? Das Europaviertel in Brüssel hat er nach seinem Verschwinden als Hochsicherheitszone zurück gelassen, aber von Aufregung ist hier keine Spur. Ganz im Gegenteil, Pubs und Pinten haben regulär geöffnet. Nach Sonnenuntergang laufen sie voll, die Gäste stehen in Trauben auf den Straßen davor. Es ist viel spanisch zu hören, französich und englisch natürlich.

Jean-Claude Juncker ist nach unzähligen Gipfeln zum Thema in den vergangenen drei Jahren ebenfalls keine Aufregung anzumerken. Stattdessen kann man an diesem Donnerstag die Ermüdung in seinem Gesicht erkennen. Verhalten optimistisch ist auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, wenn sie dem Chefunterhändler der EU in Brexitfragen, Michel Barnier, für seine Arbeit dankt und ausführt, dass die 27 verbleibenden EU Staaten das Austrittsabkommen mit England billigen würden. 

Der lange Schatten des Brexits trifft aber vor allem den Nerv derjenigen Menschen, die ihn am Ende aushalten und mit den Konsequenzen fertig werden müssten. Am Samstag nach dem Brüsseler Gipfel, bringen sie auf dem People`s Vote March in London ihre Sorge über die Zukunft Großbritanniens zum Ausdruck. Dieser 19. Oktober ist auch just der Tag, an dem Boris Johnson Brüssel abermals um Verschiebung des Austrittstermins bitten muss, für den Fall, dass das Britische Unterhaus die Entwürfe der Verhandlungen des Sondergipfels vom Donnerstag nicht annehmen würde. The ayes have it, Johnson muss bitten! 

Hunderttausende kommen jetzt wenige Meter hinter dem Unterhaus zusammen. Sie sind aus allen Landesteilen des Vereinigten Königreiches, aus allen Distrikten und Grafschaften nach London gekommen und sie sind nicht für Sightseeing hier – obwohl sie das im Vorbeigehen prima hätten erledigen können. Die drei Meilen lange Route startete an Speaker`s Corner am nord-östlichen Ende des Hyde Parks und verlief am Trafalgar Square und Marble Arch vorbei bis zum House of Parliament. Nein, an diesem Tag sind sie hier, um im Namen der Demokratie für sich das Letzte Wort in der Brexit-Debatte zu reklamieren. Sie alle eint, dass sie sich von den Brexitbefürwortern, allen voran Boris Johnson, belogen und verraten fühlen.  

Die Einstimmigkeit der Hunderttausenden vor dem Parlament steht in krassem Gegensatz zur Uneingkeit im Parlament, wo seit dem frühen Morgen zum ersten Mal seit 1982 an einem Samstag debattiert wird. Die Forderung nach einem zweiten Referendum, jetzt, da alle Karten auf dem Tisch liegen, wird kräftig unterstützt von namhaften Fürsprechern auf der Kundgebung. Star Trek Legende Sir Patrick Stewart macht den Remainern viel Mut, indem er selbstbewusst beschreibt: „Wir sind nicht nur tausend (…). Wir haben eine ganze Stadt übernommen. (…) Wir haben nicht nur die Brexit Debatte beeinflusst, wir haben Britische Politik verändert.“

Tatsächlich, das sagt auch Jason Arthur, Mitgründer der „For Our Future`s Sake“ (FFS, Um unserer Zukunft willen), sei die People`s Vote Bewegung angesichts des drohenden ungeordneten Brexits aus einer Vielzahl von Graswurzelbewegungen wie der studentischen FFS entstanden. Mit der klaren Forderung nach mehr Mitspracherecht der Bevölkerung bei jedweder Form des Brexits, fand People`s Vote immer mehr Unterstützer. 

London`s Bürgermeister Sadiq Khan macht den Protestern Mut, indem er ihnen versichert, dass „so Demokratie aussieht“ und dass sich alle Nachbarn und Kollegen als Europäer in GB willkommen fühlen sollen. Khan betont aber auch, dass der Brexit keine Philosphie sei, sondern Ideologie! Im Sinne von Marx und Engels folgen Ideologien nicht Plausibilität und guten Argumenten, sondern dienen allein der Stabilisierung oder Änderung von Machtverhältnissen. Das ist der Ansatz von Diane Abbott, britische Politikerin bei Labour und 1987 erste Schwarze Frau im Britischen Parlament. Sie sagt, sie sei hier, „um Boris Johnson und seinen schrecklichen Deal zu vereiteln. Wir werden alles erforderliche tun, um ihn weiterhin zu vereiteln.“

Vorerst ist das geschafft! Boris Johnson hat in der Zwischenzeit einen (nicht unterschriebenen) Brief mit der Bitte um Verschiebung des Austritts aus der EU nach Brüssel geschickt. Die Bundeskanzlerin und ihr französisches Pendant, Emmanuel Macron, haben Zustimmung signalisiert. 

Man möchte den Spitzenpolitikern wünschen, dass sie mit der gleichen Heiterkeit, der gleichen positiven, progressiven und entschiedenen Energie in die weiteren Verhandlungen gehen, wie die Gegner des Brexit das in London vorgemacht haben. Wie sonst ist das ewige Herumgegipfel auszuhalten, wenn nicht mit Zuversicht und einem positivem Ausblick?

Gut möglich aber, dasss die freudige Erwartung auf die inzwischen liebgewonnenen Präsidentenbuddys zielt. Und auf das gemeinsame abendliche Freizeitprogramm nach den unerfreulichen Verhandlungen, wenn man sich bei Macron auf dem Zimmer zur gepflegten Kissenschlacht frifft. Oder bei Boris, weil er immer die neuesten Zaubertricks auf Lager hat. 

28. Oktober 2019, 15:56 Uhr
Sehen Sie die Foto-Reportage
aus Brüssel und London
unter dem Text
Mehr Reportagen aus Europa